Kreisverkehr mit Tempo 220

Der erste Offshore-Windpark Europas im schwedischen Kalmarsund beflügelt deutsche Projekte / Von Christian Preiser


BERGKVARA, im Juli. Im Schlauchboot auf bewegter See können zwölf Kilometer weit sein. Selbst wenn sich der 100 PS starke Außenbordmotor ins Zeug legt, dauert der Ritt über die Wellen endlose zehn Minuten. Dann ist Europas einziger echter Offshore-Windpark erreicht. Mitten im schwedischen Kalmarsund zwischen Bergkvara und Öland ragen die sieben Windräder der "Utgrunden Offshore Windfarm" auf ihren 40 Meter hohen Stahlmasten aus dem Meer. Betrieben wird die achtzehn Millionen Euro teure Anlage von der Enron Wind Energy AG, die seit kurzem zum amerikanischen Konzern General Electric (GE) gehört. Die dreiflügeligen Rotoren der Windmühlen drehen sich ruhig und bedächtig - zwischen elf und zwanzig Mal in der Minute, die Zahl der Umdrehungen hängt von der Windgeschwindigkeit ab. Bei Windstärke sechs erreicht der Windpark in Utgrunden seine Nennleistung: Jedes Windrad liefert dann 1,5 Megawatt Strom, zusammen 10,5 Megawatt. Was die Windmühlen binnen einer Stunde produzieren, entspricht dem Stromverbrauch von etwa vier deutschen Haushalten innerhalb eines ganzen Jahres (12 000 Kilowattstunden). Insgesamt, so rechnet Enron vor, hat der Offshore Windpark in Utgrunden in den zwölf Monaten seit seiner Inbetriebnahme Ende 2000 rund 38 000 Megawattstunden Strom geliefert.

"Wenn der Wind mit mehr als 25 Metern in der Sekunde bläst, schalten die Anlagen automatisch ab", sagt Thomas Stalin, der das Projekt seit dem Einrammen der 26 Meter langen Fundamentpfähle in den Meeresboden vor anderthalb Jahren betreut. Er hat auch die Montage der riesigen Generatorgondeln sowie der Propeller mit Hilfe von Schwimmkränen überwacht. Deren Nothalt bei Sturm und Orkan hat vor allem Sicherheitsgründe: Denn bei Windstärke zehn und mehr lassen sich die dynamischen Kräfte in den bewegten Bauteilen nicht mehr beherrschen. Bei einem Radius von 70 Metern wiegt jeder der dreiflügeligen Rotoren aus Epoxydharz immerhin 35 Tonnen. Schon im Regelfall bei moderaten zwölf Metern in der Sekunde sausen die Flügelspitzen mit Tempo 220 durch die Luft.

Bei Flaute dagegen passiert gar nichts. Dann stehen alle Räder still, und in Utgrunden wird kein Milliwatt Strom produziert. Andere Kraftwerkstypen müssen dann die fehlende Energie liefern. Für die großen Energieversorgungsunternehmen bedeutet das, Extra-Kapazitäten vorhalten zu müssen. Für jedes installierte Megawatt Windstrom, sagen Fachleute, muß etwa dieselbe Menge an konventionell produzierter Energie (aus Kohle- oder Atomkraftwerken) als Reserve für den Notfall bereitstehen. Kein Wunder, daß manche Energieversorger die Windkraftanlagen aufgrund ihrer Abhängigkeit von Wind und Wetter als wenig zuverlässig und mithin unwirtschaftlich kritisieren.

Daß im küstenfernen Offshore-Bereich gleichwohl ein enormes Potential für die Stromerzeugung aus Windkraft liegt, bezweifelt niemand mehr. Für Deutschland sieht die Situation derzeit so aus: Auf dem Festland verrichten mittlerweile rund 11 800 Windräder mit einer Gesamtleistung von 8753 Megawatt ihren Dienst. Sie haben im vergangenen, windarmen Jahr 2001 rund 11,5 Milliarden Kilowattstunden Strom geliefert. Damit liegt der Anteil der Windkraft am gesamten Öko-Stromaufkommen auf Platz zwei hinter Wasserkraftwerken mit etwa zwanzig Milliarden Kilowattstunden.

Offshore, also vor Deutschlands Nord- und Ostseeküsten, kann man hingegen lange nach Windrädern suchen und wird dennoch nicht fündig: Zwar liegen dem für die Genehmigung von Offshore-Windparks zuständigen Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie in Hamburg mittlerweile rund 30 Bauanträge für die Errichtung von Windparks mit einer Gesamtleistung von mehr als 60 000 Megawatt vor. Doch genehmigt ist erst ein einziges Pilotprojekt: der Windpark Borkum West. Bis zum Jahr 2004 will die Prokon Nord Energiesysteme GmbH 45 Kilometer nördlich von Borkum zwölf Windräder in die Nordsee stellen. Die Kosten für diesen 60-Megawatt-Windpark werden auf 130 Millionen Euro geschätzt. Bewährt sich die Versuchsanlage, sollen von 2007 an in einer 1,5 Milliarden Euro teuren Ausbauphase 208 weitere Windräder folgen und die Gesamtleistung des Windparks Borkum West auf satte 1000 Megawatt treiben. Doch noch ist das alles Zukunftsmusik. Wie auch bei allen anderen geplanten Offshore-Projekten in der deutschen Nord- und Ostsee sind die technischen Details des Vorhabens noch weitgehend unklar: Wer liefert die Fünf-Megawatt-Windräder? Wie werden die Anlagen auf dem Meeresboden verankert? Wie kann offshore produzierter Strom ohne große Verluste aufs Festland transportiert und dort ins Stromnetz eingespeist werden?

Borkum West könnte von den Erfahrungen kleinerer Anlagen wie der im schwedischen Kalmarsund profitieren. So hat nach Angaben von Thomas Stalin die "Utgrunden Offshore Windfarm" bewiesen, daß küstenferne Windkraftinstallationen funktionieren; bislang hatte es in Schweden und Dänemark lediglich sogenannte Nearshore-Windparks in unmittelbarer Küstennähe gegeben. Zwar kosteten die Errichtung und die Instandhaltung von Windrädern im echten Offshore-Bereich - also zwischen zwölf und 50 Kilometern von der Küste entfernt - etwa fünf mal mehr als Anlagen an Land. Wegen der auf hoher See kräftigeren und beständiger blasenden Winde könne aber auch doppelt soviel Strom produziert werden. Große Hoffnung setzt Stalin auf die Entwicklung von besonders leistungsfähigen und speziell für den Einsatz im aggressiven Salzwassermilieu adaptierten Windrädern der Multimegawattklasse. Ob Vestas, Nordex, NEG Micon oder GE - fast alle Hersteller arbeiten an der Entwicklung von gigantischen hochseetauglichen Windrädern mit einer Leistung von fünf Megawatt und mehr. Nicht zuletzt dank der staatlichen Förderung von Öko-Strom fühlt sich die gesamte deutsche Windenergieindustrie im Aufwind. 35 000 Mitarbeiter, ein Umsatz von drei Milliarden Euro im vergangenen Jahr und Wachstumsraten im zweistelligen Prozentbereich zeugen vom schnellen Wachstum in der Branche und dem Vertrauen der Investoren. Das Kalkül: Wer Windmühlen sät, wird Strom und Rendite ernten.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2002, Nr. 170 / Seite 7